Das Magazin enthält auch das unten wiedergegebene Interview von Michael Bienert mit den drei Mitarbeiterinnen der Staatsbibliothek zu Berlin, die den Nachlass Adelbert von Chamissos erschließen. 1938 ging er aus Familienbesitz an die Staatsbibliothek, nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er in die Sowjetunion verschleppt und kehrte 1958 nach Ost-Berlin zurück. Mit Hilfe der Robert-Bosch-Stiftung wird der schriftliche Nachlass zur Zeit wissenschaftlich erschlossen, digitalisiert und im Internet veröffentlicht. Jutta Weber leitet das Projekt, sie hat es als stellvertretende Leiterin der Handschriftenabteilung in der Staatsbibliothek auf den Weg gebracht. Anja Krüger als Diplom-Archivarin und die Literaturwissenschaftlerin Monika Sproll arbeiten sich seit Anfang 2012 Blatt für Blatt durch den umfangreichen Nachlass.
Jutta Weber, Anja Krüger, Monika Sproll in der Staatsbibliothek zu Berlin |
JUTTA WEBER: Es ist ein ungewöhnlich vollständiger Nachlass,
er umfasst alle Arten von Dokumenten, die man sich nur wünschen kann: Briefe,
Urkunden Reiseaufzeichnungen, Notizbücher, Werkmanuskripte, das meiste
unveröffentlicht. Das alles korrespondiert mit anderen Handschriften in der
Staatsbibliothek, die viele Nachlässe von Gelehrten des frühen 19. Jahrhunderts
besitzt, etwa der Brüder Grimm, der Brüder Humboldt, der Philosophen Fichte und
Hegel...
ANJA KRÜGER: Ich bearbeite die Familienbriefe und finde die
Geschichte von Chamissos Familie, die wegen der Französischen Revolution 1792 nach
Deutschland floh und später teils hier, teils in Frankreich lebte, hoch
interessant. Für mich als Archivarin war es aber auch sehr spannend, die
Geschichte des Nachlasses herauszuarbeiten. Auf den Nachlasszetteln stehen
kleine Zahlen, wir haben inzwischen herausgefunden, dass es sich um
Altsignaturen handelt. So können wir jetzt rekonstruieren, was fehlt oder
vielleicht später hinzugekommen ist.
MONIKA SPROLL: Für die Literaturwissenschaft ist günstig,
dass wir die Materialien eines ganzen Dichterlebens beisammen haben. Man kann
nachvollziehen, wie der junge Chamisso sich vom Lyriker zum Prosaautor
entwickelt und sich dann doch entscheidet, bei der Lyrik zu bleibt. Man sieht
sein Interesse an den Literaturen Europas und über Europa hinaus. Interessant
finde ich auch, dass Chamisso in der Literatur die Phantastik liebte, aber
als Wissenschaftler ein strenger
Empiriker war. Das war zu seiner Zeit nicht selbstverständlich.
JUTTA WEBER: Das ist ein Nachlass, der nicht nur
Literaturwissenschaftler begeistert, sondern auch Naturwissenschaftler!
CHAMISSO: Wann entstand die Idee zur digitalen
Veröffentlichung?
JUTTA WEBER: Ich habe die Leitung des Referats „Nachlässe
und Autographen“ in der Staatsbibliothek 2004 übernommen und mich gewundert,
dass dieser Nachlass so unbearbeitet geblieben ist. Er steckte immer noch in
den russisch beschrifteten Mappen aus der Zeit seiner Auslagerung in die
Sowjetunion. In den letzten Jahren rückte die Möglichkeit digitaler
Veröffentlichungen generell immer mehr ins Blickfeld. Durch die finanzielle
Beteiligung der Robert-Bosch-Stiftung wurde daraus ein reales Projekt. Eine
Rolle hat auch gespielt, dass Chamissos Nachlass – so komplex er ist – noch
überschaubar ist, es sind 35 Archivkästen. Dies ist das erste Projekt dieser
Art, das die Staatsbibliothek angeht, auch weltweit gibt es kaum etwas
Vergleichbares: dass ein Nachlass komplett erschlossen und für jedermann
zugänglich ins Netz gestellt wird.
CHAMISSO: Warum braucht die Staatsbibliothek dafür die
finanzielle Hilfe der Robert-Bosch-Stiftung?
JUTTA WEBER: Länger dauernde Projekte können wir nicht mit
unserem eigenen Personal bewältigen, weil die rasche Bearbeitung von
Nutzerwünschen immer Vorrang hat. Frau Krüger und Frau Sproll arbeiten
kontinuierlich am Nachlass, bei dieser komplexen Aufgabe muss das so sein,
sonst wird das nichts.
CHAMISSO: Und wie gehen Sie vor?
KRÜGER: Frau Sproll ist für die wissenschaftliche
Tiefenerschließung der Manuskripte und Briefe zuständig, ich unterstütze sie
bei der Entzifferung und der Klärung von Datierungen, recherchiere Personen und
Orte, packe die Nachlassmaterialien in säurefesten Mappen und Kästen um, gebe die
Daten in „Kalliope“ ein...
CHAMISSO: Erklären Sie bitte kurz, was „Kalliope“ ist!
WEBER: Eine Verbunddatenbank für Nachlässe und Autographen
in Deutschland, die von mir in der Staatsbibliothek aufgebaut worden ist. Sie
geht auf die 1966 begründete Zentralkartei der Autographen zurück, einen
Katalog mit über einer Million Zettelnachweisen. Diese Nachweise sind
inzwischen in diese nationale Datenbank überführt worden, bei der 500
Institutionen in Deutschland ihre Autographen melden. Dadurch werden Verbindungen
unseres Chamisso-Nachlasses zu Handschriften anderswo in Deutschland sofort
sichtbar, zum Beispiel zu denen im Deutschen Literaturarchiv in Marbach.
CHAMISSO: Die Datensätze in „Kalliope“ sind sehr
umfangreich, so verzeichnen sie bei jedem einzelnen Brief Chamissos alle
erwähnten Personen, aber auch Orte, Publikationen, Tier- und Pflanzennamen,
damit man danach in der Datenbank suchen kann. Frau Sproll, wie gehen Sie als
Literaturwissenschaftlerin damit um, dass sie plötzlich Dutzende botanischer
Bezeichnungen richtig einordnen sollen?
SPROLL: Die erwähnten Publikationen kann man bibliographisch
erschließen, für die botanischen und zoologischen Begriffe gibt es historische
Wörterbücher. Es ist aber oft nicht ganz einfach, in der Handschrift die
Fachbegriffe überhaupt richtig zu entziffern. Dabei hilft das Internet sehr,
zum Beispiel kann ich bei Google Books prüfen, ob der Begriff, den ich gelesen
habe, in älteren Werken auftaucht.
WEBER: Es ist ein glücklicher Zeitpunkt für solch eine
Arbeit, vor acht Jahren standen viele Hilfsmittel online noch gar nicht zur
Verfügung. Wir sitzen hier zwar in einer riesigen Bibliothek mit Millionen
Büchern, aber man muss das richtige Buch erstmal finden...
SPROLL: Internetfachportale, zum Beispiel zur Biologie, sind
eine große Hilfe. Wir können so viel schneller arbeiten. Aber natürlich
bestellen wir auch viele Bücher. Und wir haben inzwischen viele Kontakte zu
Botanikern und Zoologen aufgebaut, so kann ich meine Recherchen fachkundig
überprüfen lassen.
CHAMISSO: Hat sich ihr Blick auf Chamisso durch die Arbeit
verändert?
KRÜGER: Beim Bearbeiten der deutschen und französischen
Familienbriefe bin ich oft berührt von dem engen Zusammenhalt in der großen
Familie. Man erfährt viel über die Beziehung zu seiner Frau, den Brüdern, den
Schwägerinnen und ihren Kindern. Chamissos Neffen in Frankreich haben ihn sehr
bewundert. Ich lese immer wieder gern in den Briefen, obwohl die inhaltliche
Tiefenerschließung nicht meine eigentliche Aufgabe ist...
SPROLL: Es ist hochinteressant, in diese Zeit einsteigen zu
können, in den Alltag, in das literarische und wissenschaftliche Leben. Immer
wieder kommen spannende Briefe auf den Tisch, die Bezüge zu anderen Dichtern
herstellen. Es ist sehr amüsant zu lesen, wie Chamisso und Gustav Schwab sich
als Herausgeber des „Deutschen Musenalmanachs“ ein Urteil über die Gedichte
anderer Autoren bilden. Wir haben auch einige Briefe von E. T. A. Hoffmann an
Chamisso im Nachlass. In einem bittet Hoffmann um ganz konkretes Fachwissen,
weil er eine Satire über zwei Zoologen schreiben will, die wegen einer Laus in
Streit geraten.
WEBER: Für mich ist es beglückend zu sehen, wie hier eine
junge Archivarin ihre präzisen Recherchen und eine Literaturwissenschaftlerin
ihr Hintergrundwissen über die Zeit zusammenbringen, und zwar so, dass die
Ergebnisse sofort in der Internetdatenbank zu sehen sind. Es ist hier nicht so,
dass endlos an einer Edition gearbeitet wird, die dann vielleicht nach 10 oder
20 Jahren vorliegt. Hier haben zwei junge Forscherinnen sofort die Chance, ihr
Wissen mit der Welt zu teilen.
CHAMISSO: Werden die Digitalisate des Nachlasses auch für
jedermann frei zugänglich sein?
WEBER: Ja! Und neu ist auch, dass jeder sofort unsere Arbeit
mit den Handschriften überprüfen kann. Bei aller Sorgfalt gibt es immer Fehler
bei der Entzifferung, die lassen sich in der Onlinedatenbank aber sehr schnell
korrigieren.
SPROLL: Unsere Arbeitsform führt dazu, dass der Leser oder
Nutzer selbständig an den Materialien arbeiten kann. Wie bieten eine
Hilfestellung, aber keine Interpretation im voraus. So gibt es bei Briefen
keine eigene Inhaltszusammenfassung (wie bei einer Regestedition), sondern eine
Inhaltserschließung nach suchbaren Schlagworten; die Leser können den gesamten
Inhalt dann selber studieren, das finde ich sehr wichtig.
WEBER: Wir stehen an einem Wendepunkt, wo sich durch die
Digitalisierung das wissenschaftliche Arbeiten verändert. Das ist keine Arbeit
mehr im einsamen Kämmerlein, vielleicht ein Leben lang, sondern man geht sehr
schnell an die Öffentlichkeit. Neu ist bei unserem Projekt auch die
Zusammenarbeit mit den Fachleuten in den Universitäten oder im
Naturkundemuseum, ich würde mir wünschen, dass so etwas häufiger stattfindet
und dass die Kooperation auch international ausgebaut wird. Gerade bei Chamisso
mit seinen Verbindungen nach Frankreich oder Russland, er ist ja auf einem
russischen Forschungsschiff um die Welt gesegelt und sein Herbarium liegt in
St. Petersburg. Wir wollen in einer zweiten Projektphase auch die
Chamisso-Bestände in anderen Sammlungen und Museen einbinden.
KRÜGER: Die formale Erschließung des Nachlasses in der
Staatsbibliothek ist im Juni 2013 abgeschlossen, bei der inhaltlichen
Erschließung bleibt noch einiges zu tun. Wir wollen ein eigenes Internetportal
für den Chamisso-Nachlass schaffen, wo man – anders als „Kalliope“ – auch
Benutzungshinweise und erläuternde Kommentare finden kann.
CHAMISSO: Sie sagten, der Berliner Nachlass sei relativ
vollständig, gibt es denn noch mehr?
KRÜGER: Wir haben einen Kasten Briefe von Chamisso in der
Staatsbibliothek, aber sieben Kästen mit Briefen, die an ihn gerichtet sind.
Das heißt, etliche Briefe Chamissos müssen anderswo, nämlich in den Nachlässen
seiner Korrespondenzpartner, verblieben sein. Danach können wir jetzt gezielt
fahnden.
Briefe an Chamisso, unter anderem von E. T. A. Hoffmann, in russischer Verpackung. |
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