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Mittwoch, 2. Oktober 2013

Schlemihls Siebenmeilenschritte

Bernd Ballmann im National Maritime
Museum (Greenwich/London).
Foto von Jobst Richard Thuerauf
Von Bernd Ballmann (London)

Peter Schlemihls Siebenmeilen-
schritte gehören ins Reich der Märchen. Gehören sie aber nur dahin? In einer Chamisso-Biographie lesen wir: "Mit einem Schritt ist er [Schlemihl] am Nordpol, mit dem nächsten in China und mit dem dritten und vierten einmal um die ganze Erde gereist." Nein, ganz so märchenhaft großzügig geht Chamisso mit seinem Motiv nicht um. Die Wunderstiefel tragen Schlemihl nicht einmal quer übers Mittelmeer. Es ist ihm offenbar nicht möglich, etwa von Tunis nach Sizilien überzusetzen, obwohl es dazwischen noch einen Trittstein gibt, die Insel Pantelleria. Er sieht sich gezwungen, das Meer zu umgehen: auf der Ostseite die syrische Küste entlang, auf der Westseite über die Meeresenge von Gibraltar hinweg. Auch das Adriatische Meer umgeht er auf seinem Weg von Italien nach Griechenland.

Schlemihls Berichte von seinen Erkundungszügen (knapp gefasst in der Druckfassung von 1814, viel ausführlicher in der von Helmuth Rogge 1919 veröffentlichten Fassung der "Urschrift") deuten darauf hin, dass seine Schritte sowohl phantastisch raumgreifend als auch quasi-realistisch begrenzt gemeint sind. Der Berliner Chamisso dachte sich die Sieben Meilen der Märchen und Sagen allem Anschein nach als sieben preußische Landmeilen (52,78 km). Und er hatte bei dieser Distanz Cunersdorf im Sinn, denn er schreibt in einem Brief vom Frühjahr 1814, das Gut seiner Gastgeber Itzenplitz sei "sieben Meilen von hier [Berlin] im schönen Oderbruch" gelegen. Obwohl die Erzählung es nicht explizit sagt, muss man sich Schlemihl als einen Geometer vorstellen, der mit seiner normierten Schrittlänge von fast 53 Kilometern nicht nur rasch vorankommt, sondern überdies durch das Zählen seiner Schritte riesige Landstriche erstmalig zu vermessen weiß.
Der Landvermesser muss aber Fuß fassen können, auf festem Land oder festem Eis. Wenn er eine Wasserwüste durchmessen will, bedarf es dazu einer Kette von Trittsteinen, und niemals darf ein solcher Stein jenseits des preußisch begrenzten Schrittes liegen. Daher bleibt dem Schlemihl, dem Pechvogel, das für seine Studien so wichtige Australien (samt Tasmanien) unerreichbar; weder von den tropischen Sunda-Inseln her, noch aus der entgegengesetzten Richtung, von der Südspitze Südamerikas her über die Eiswüste der Antarktis, findet er einen gangbaren Weg. Weinend setzt er sich auf Lombok nieder und beklagt, echt romantisch, das Begrenzte und Fragmentarische allen menschlichen Bemühens.
Auch die Beringstraße (85 km) ist eigentlich zu breit für den Wanderer, aber die Diomedes-Inseln und der Fairway Rock in der Mitte halbieren die Distanz. Andere wichtige Meeresengen sind an sich schon eng genug für Schlemihls Berlin-Cunersdorf-Schritt: die Straße von Gibraltar (14 km) und die Straße von Dover (33 km). So kann Schlemihl ohne Probleme nach London reisen, um sich mit Geräten und Büchern für seine Studien einzudecken. Er muss nur darauf achten, dass ein freundlicher Nebel seine Schattenblöße bedeckt.

1 Kommentar:

  1. Lieber Herr Ballmann,
    was für ein schöner Einfall - Chamisso, oder besser sein Schlemihl als Geometer mit normierter Schrittlänge! Keine Frage, Australien bleibt ihm unerreicht. Doch warum setzt er sich in der Kette der Kleinen Sunda-Inseln ausgerechnet auf Lombok weinend nieder. Die Meerenge zwischen Bali und Lombok - später wird sie als Teil der Wallace-Linie in der Biogeographie Geschichte schreiben - ist mit ihren knapp 30 Kilometern zwar wirklich keine Barriere; aber das wären die anderen Meeresstraßen der gen Osten gelegenen Inseln von Nusa Tenggara auch nicht - bis Schlemihl vor Timor scheitert. Spätestens dort wird es dann auch für den Siebenmeilenstiefler nicht weitergehen, wenn er den Schlemihl'schen Schritt hat.
    So bleibt also weiterhin ungeklärt, warum Chamisso ausgerechnet mitten in den Kleinen Sundainseln seinen Schlemihl verzweifeln läßt. Immerhin: Wir haben überlegt, eine auf Lombok gefundene - möglicherweise - neue Art mit Namen "lacrimaschlemehli" zu nennen, so sehr rührt uns Zoologen dieses märchenhafte Scheitern.
    Mit herzlichen Grüßen
    Ihr
    Matthias Glaubrecht / Museum für Naturkunde (Berlin)

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