„Die mehrsten Menschen, wie auch unsere Nordländer, bestatten ihre Toten und halten die Gräber heilig. Der Reisende und Sammler kann nur durch einen seltenen glücklichen Zufall zu dem Besitze von Schädeln gelangen, die für die Geschichte der Menschenrassen von der höchsten Wichtigkeit sind.“
Adelbert von Chamisso,
Reise um die Welt
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Fundorte von Schädeln, die Chamisso
sammelte. Zum Vergrößern anklicken! |
Anfangs war es ihm kaum mehr als eine beiläufige Randnotiz wert. Am Schluß seiner
Bemerkungen und Ansichten aus dem Jahr 1821, die als dritter Band zu Otto von Kotzebues
Entdeckungs-Reise in die Südsee und nach der Bering-Straße zur Erforschung der nordöstlichen Durchfahrt erschienen, vermerkte Adelbert von Chamisso anlässlich des Besuchs der russischen Brigg "Rurik" bei den Bewohnern der in der Bering-Straße belegenen Sankt Laurenz-Insel: “Sie scheinen nicht ihre Todten … zu verbrennen. Wir haben Schädel auf dem Plateau der Insel und in den Felsentrümmern am Fuße der Höhen angetroffen, aber nicht die aus Treibholz ausgeführten Monumente bemerkt, die auf der amerikanischen Küste die Ruhestätte der Todten über den gefrornen Boden der Hügel bezeichnen, und vor den wilden Thieren schützen”.
In seinem zwei Jahrzehnte später verfaßten sogenannten
Tagebuch der
Reise um die Welt wird Chamisso in diesem Punkt sehr viel deutlicher, als er davon berichtet, wie die Expedition während der Sommer-Kampagne 1816 die Sankt Laurenz-Insel, den nördlich davon gelegenen Kotzebue-Sund an der Westküste Alaskas und schließlich die Kette der Aleuten-Inseln besuchte. Hier notiert er zu den Funden menschlicher Schädel: „Ich habe das Glück gehabt, die reiche Schädelsammlung des Berliner Anatomischen Museums mit dreien, nicht leicht zu beschaffenden Exemplaren zu beschenken: diesem von der Sankt-Laurenz-Insel, einem Aleuten aus einem alten Grabmal auf Unalaschka und einem Eskimo aus den Gräbern der Bucht der Guten Hoffnung in Kotzebues-Sund. Von den dreien war nur der letztere schadhaft“.
Auch der Maler der „Rurik“-Expedition, Ludwig Choris, bildete 1822 in sein illustrierten Reisewerk den Schädel eines Eskimos vom Kotzebue-Sund und den eines Aleuten ab.
So deutlich indes Chamissos Hinweis auf die von ihm gesammelten Menschen-Schädel aus der Arktis, so unbeachtet blieben sie dann über beinahe zwei Jahrhunderte. Jetzt ist es dem Biologen Matthias Glaubrecht gelungen, wenigstens einen dieser drei von Chamisso erwähnten Schädel ausfindig zu machen. Derjenige eines etwa 60 Jahre alten männlichen Aleuten von der Insel Unalaschka befand sich lange Zeit in der Sammlung des Anatomischen Instituts der Charité in Berlin. Die Odyssee dieses Schädels mit der Inventarnummer AN 3901 konnte rekonstruiert und dieser mit modernsten anthropologischen Methoden untersucht werden (ausführlich dazu: Glaubrecht, M., Seethaler, N., Teßmann, B. & Koel-Abt, K. 2013. „The potential of biohistory: Re-discovering Adelbert von Chamisso’s skull of an Aleut collected during the “Rurik” Expedition 1815-1818 in Alaska“, veröffentlicht in der Fachzeitschrift
Zoosystematics and Evolution, Band 89, Heft 2: 317-336.)
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Der Originalschädel auf der Neuausgabe der Reise um die Welt in der Anderen Bibliothek (2012) |
Bei dem Schädel, der inzwischen an das Museum für Vor- und Frühgeschichte der Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz in Berlin übergeben wurde, handelt es sich nicht um jenen, den auch Choris zeichnete; was das von Chamisso weiter Mitgeteilte bestätigt. Und wie bei ihm kaum anders zu erwarten, schloß er die besagte Episode in seinem Reisebericht von 1836 mit einer ebenso aufschlussreichen wie nachdenklichen Überlegung. Sie zeigt, dass sich Chamisso – übrigens als einer der ganz wenigen seiner Zeit, und damit einmal mehr dieser voraus – des Frevels und Vergehens der Mannschaft der „Rurik“ bewußt war, nachdem sie die Grabstelle von Eskimos im Kotzebue-Sund plünderten. „Unsere habsüchtige Neugierde hat diese Grabmäler durchwühlt, die Schädel sind daraus entwendet worden. Was der Naturforscher sammelte, wollte der Maler, wollte jeder auch für sich sammeln. …Es wurde zu spät bemerkt, was besser unterblieben wäre. Ich klage uns darob nicht an, wahrlich, wir waren alle des menschenfreundlichsten Sinnes, und ich glaube nicht, dass Europäer sich gegen fremde Völker, gegen ‚Wilde’ (Herr von Kotzebue nennt auch die Eskimos "Wilde“) musterhafter betragen können, als wir allerorten getan, namentlich unsere Matrosen verdienen in vollem Maße das Lob, das ihnen der Kapitän auch gibt. Aber hätte dieses Volk um die geschändeten Gräber seiner Toten zu den Waffen gegriffen: Wer mochte da die Schuld des vergossenen Blutes tragen?“
Lieber Matthias Glaubrecht, vielen Dank für diesen Hinweis und den fantastischen Fund. Die Schädel-Episode hat die Chamisso-Forscher vielfach beschäftigt, sie zeigt Chamisso im Zwiespalt zwischen wissenschaftlicher Neugier und Verantwortungsbewusstsein im Umgang mit anderen Kulturen. Dass dieses Objekt identifiziert werden konnte, bringt uns Chamisso wieder ein Stück näher.
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