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Mittwoch, 8. August 2012

Walkunde

Die Illustrationen zu seiner
Abhandlung über Wale hat
Chamisso selbst gezeichnet.
Von Michael Bienert Es geht einem gleich das Herz auf, schon beim ersten Hineinblättern in das Buch Chamisso und die Wale, denn so sorgfältig und zugleich ansprechend ist vielleicht noch nie eine wissenschaftliche Arbeit Adelbert von Chamissos ediert worden. Seine kleine Schrift über Wale lag bisher nur auf lateinisch vor, sie erschien 1824 und basiert auf Feldforschungen während seiner Weltreise auf einem russischen Forschungsschiff wenige Jahre zuvor. Von dieser Reise brachte Chamisso kleine Walmodelle aus Holz mit, die er sich in Alaska von Einheimischen schnitzen ließ. Sie bildeten zusammen mit deren Berichten und eigenen Beobachtungen die empirische Basis für seine wissenschaftliche Beschreibung der dort vorkommenden Walarten. Dass diese Basis schmal war, wusste Chamisso, indes: "Auch wenn dies alles unvollständig und unvollkommen ist, wird es bei dem Mangel an genauerer Kenntnis doch willkommen sein."
Bis heute ist nicht klar, wie viele Walarten es überhaupt gibt, trotz systematischer Beobachtung über und unter Wasser. Chamisso gelang seinerzeit ein substantieller Beitrag zur Wissensvermehrung über die rätselhaften Meeressäuger, weil er die Arbeiten europäischer Zoologen an dem über Generationen erworbenen Erfahrungswissen der Aleuten überprüfte. In Gestalt der Walmodelle, von denen noch sechs im Berliner Museum für Naturkunde erhalten sind, konnte er das einheimische Wissen von Alaska nach Europa transferieren. "Auf faszinierende Weise wird in einer sich als modern verstehenden zoologischen Schrift das Wissen einer vormodernen und außereuropäischen Kultur anerkannt und weiter transportiert. Von heute aus betrachtet, scheint Chamisso seiner Zeit damit weit voraus zu sein. Sein respektvoller und kluger Umgang mit dem Wissen der Aleuten deutet auf Claude Levi-Strauss hin, der das magische Denken als ´Wissenschaft vom Konkreten´, als eine Art `wissenschaftlicher Erkenntnis´ betrachtete - und nicht lediglich als Vorform wissenschaftlichen Denkens. Der Zoologe Chamisso verfährt nicht anders als ein moderner Ethnograf, der die Eurozentrik seiner eigenen Position weder verleugnet noch die Perspektive des ´Anderen´ diskreditiert", schreibt die Herausgeberin Marie-Theres Federhofer in ihrer Einleitung.

Wie bei seinen botanischen Arbeiten interessierte sich Chamisso auch für die praktische Anwendung des gesammelten Wissens; so schreibt er über den Physeter (Pottwal): "Unter dem Speck bilden die Zahnwale ein Gewebe von Fäden aus, das von der Schnauze bis zur Schwanzflosse reicht. An der Schwanzflosse aber teilen sich die Fäden, wie es bei den Bartenwalen der Fall ist, in vier Bündel, welche die Einwohner als Seile benutzen. Die Haut, sei es des ganzen oder wenigstens des vorderen Körpers, dient der Herstellung von Schuhsohlen ... Aber das Fleisch und der Speck werden nur bei größtem Mangel zu Nahrungszwecken verwendet. Denn das Fett saust so schnell wie Merkur durch die Eingeweide und verursacht sehr schlimmen Durchfall, weshalb es nur für Lampen dient." Etwas wehmütig liest man bei Chamisso, dass die Aleuten nur tote Tiere, die an Land gespült wurden, ausschlachten konnten. Die systematische Jagd der Europäer und Amerikaner auf die großen Wale, die beinahe zu ihrem Aussterben führte, hat Hermann Melville etwa dreißig Jahre später in seinem Roman Moby Dick mit wissenschaftlicher Präzision geschildert.
Chamisso und die Wale dokumentiert Chamissos Abhandlung im lateinischen Original und in deutscher Übersetzung, einschließlich der Abbildungen der Wale, die Chamisso für die Publikation nach dem Modellen gezeichnet hat. Einige Originalzeichnungen sind in einem Brief an den Bonner Verleger Weber erhalten. Sie können mit den zeitgenössischen Reproduktionen ebenso verglichen werden wie mit Farbfotografien der Holzmodelle aus dem Berliner Naturkundemuseum. Ergänzend folgen Auszüge aus Chamissos Reisebericht und Zeichnungen der Künstlers Ludwig Choris, der die Weltreise visuell dokumentiert hat. Eine wissenschaftlich akribische Edition, die als gebundenes Buch so schön in der Hand liegt, dass man es sogleich an Literaturliebhaber und Zoologen weiterverschenken möchte.

Marie-Theres Federhofer 
Chamisso und die Wale
mit dem lateinischen Originaltext der Walschrift 
Chamissos und dessen Übersetzung, Anmerkungen 
und weiteren Materialien.
2012, Fürstenberg: Kulturstiftung Sibirien 
132 pp., 23 farb. Abb., 16 x 22,5 cm
Euro 28, Hardcover, ISBN: 978-3-942883-85-6

Das Buch ist auch gratis in einer PDF-Version zugänglich.

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